Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch nähern wir uns dem Grenzübergang zu Kasachstan. Tags zuvor haben nämlich russische LKW Fahrer uns und unseren Mut bestaunt, dieses Land zu bereisen.
Bereits am kasachischen Grenzposten verliert sich jedoch dieses Gefühl im Nu, als Aneta mit dem Grenzbeamten im russisch-polnisch-mix zu scherzen beginnt. Der Zöllner schießt begeistert Fotos von unserem Mobil, um sie sogleich seiner Familie per WhatsApp zu senden. Vor uns erschließt sich eine weite, mit Pinienwäldern durchzogene, Sandebene. Erleichtert und beflügelt von den neuen Erlebnissen genießen wir erst einmal in aller Ruhe einen Kaffee am Straßenrand.
Die Zähler unserer „Visauhren“ sind wieder auf „null“ gestellt und wir haben jede Menge Zeit um Land und Leute kennen zu lernen. Dreißig Tage Aufenthaltsdauer, die jederzeit durch Aus- und Wiedereinreise problemlos verlängert werden kann.
An der Stadtgrenze zu Semei begegnen wir drei Männern, welche über die Straße gelaufen kommen, begeistert die Hand schütteln und uns herzlich willkommen heißen. In der Stadt gilt es erst einmal wieder an Geld zu kommen und am 5. Bankautomaten wird unser Wunsch dann endlich erfüllt. Dabei hilft uns ein Bankangestellter und zwei ältere Damen. Hier ist es offenbar selbstverständlich, dass man sich gegenseitig beim Bargeld abheben aktiv hilft und nicht nur über die Schulter schaut.
Der neu erworbene Reichtum wird sogleich in zwei lecker dampfende Maiskolben mit Butter und Salz investiert. So sitzen wir nun auf den Treppenstufen eines Hauseingangs, knabbern Mais und beobachten die Fußgänger.
Dem guten Rat von netten Reisefreunden folgend, haben wir uns entschieden die Route durchs Landesinnere zu wählen. Und nicht der wohl sehr schlecht ausgebauten Strecke durch den Osten des Landes.
Wir verlassen die Stadt und finden nach längerer Suche einen idyllischen Übernachtungsplatz in einem versteckten Pinienwald. Zwei bis drei Tage wollen wir hier entspannen. Als es zu regnen beginnt, machen wir es uns, mit einer schönen Tasse Tee, gemütlich.
Dass unsere Entspannung am nächsten Tag ein jähes Ende finden soll, ahnen wir aber noch nicht.
Der Nieselregen hält auch am nächsten Tag noch an und singt leise auf unserem Dach. Wir sehen das Ganze positiv und freuen uns über die Reisepause nach der rasanten Fahrt durch Sibirien. Bis uns spät nachmittags laut hupend eine russische Buchanka im Militärlook aufschrecken lässt. Wir öffnen die Türe und blicken in zwei doch recht erstaunte Gesichter. Die Verständigung läuft Dank Anetas Russischkenntnissen recht gut ab. Allerdings teilen uns die Soldaten mit, dass wir im Militär-Sperrgebiet stehen. Wir können sie problemlos überreden und nach einem kurzen Telefonat dürfen wir auch noch eine Nacht hier verbringen.
Etwas komisch kommt uns die ganze Sache dennoch vor. Wir wissen, dass in Kasachstan zur Zeit des kalten Krieges hier zahlreiche Atomversuche durchgeführt wurden, allerdings in einem Gebiet weit weg von hier. Vorsichtshalber und mit großem Misstrauen wollen wir aber der Sache auf den Grund gehen und forschen im Internet nach.
Schließlich werden wir fündig und das Entsetzen läuft uns kalt den Rücken runter.
Russische Wissenschaftler haben hier 496 Atombomben über- sowie unterirdisch gezündet und getestet. Insgesamt wurde eine Sprengkraft vom 2500fachen der Atombombe von Hiroshima freigesetzt. Dabei wurde die Strahlung aufgrund der Wetterlage bis weit in den Osten getragen. Wo nun Sperrgebiet ist, in dem wir gerade stehen und versuchen zu Entspannen.
Diese Entspannung wandelt sich nun schlagartig in Anspannung um! Mittlerweile ist es dunkel geworden, wir packen aber trotzdem hastig unsere sieben Sachen. Die finsteren Wälder wirken nun bedrohlich. Als wir auf einem kleinen Waldweg durch ein Dorf zurück auf der Hautstraße ankommen, fühlen wir uns wie Flüchtige nach einer Apokalypse. Wir beschließen erst weit westlich vom Versuchsgelände wieder stehen zu bleiben. So fahren wir zuerst 250km auf das Gelände zu, um es im Anschluss wieder knapp 200km in westlicher Richtung hinter uns zu lassen.
Noch lange beschäftigt uns diese Sache. Wir sind enttäuscht wie fahrlässig man hier das Volk getäuscht und die Natur behandelt hat und noch immer keine Maßnahmen ergreift, um die Strahlung einzudämmen. In den umliegenden Dörfern und Städten werden immer noch viele Kinder mit Behinderungen geboren und eine Vielzahl an Einwohnern stirbt an den Spätfolgen durch Krebs. Die Folgen sind verheerend und landesweit ein enormes Gesundheitsproblem.
Mit großen Augen fahren wir in die neue Hauptstadt Nur Sultan, das ehemalige Astana ein. Fuhren wir eben noch durch alte, ärmliche Dörfer im Hinterland, so eröffnet sich vor uns nun eine surreale, futuristische Millionenmetropole mit Wolkenkratzern, gigantischen Shopping Malls und Prunk wo hin man nur sieht. Das kasachische New York. Eine Stadt, die von architektonischen Meisterwerken und Hightech nur so strotzt. In den letzten Jahren wurden hier Milliarden investiert. Namhafte Stadtplaner und Architekten u.a. Norman Foster hinterließen hier ihre Fingerabdrücke.
Wir parken unseren Truck im Innenhof des Nomad 4×4 Hostels und nach einer kurzen netten Begrüßung starten wir mit unseren Rädern, um die Stadt zu erkunden.
Auf den großzügig angelegten Fahrradwegen können wir entspannt durch die Stadt radeln und sind beeindruck von den Gebäuden und Parks. Verliebte Pärchen schlendern durch die Parkanlagen. An kleinen Ständen wird Popcorn, Zuckerwatte und Eis verkauft.
Nach drei Tagen verlassen wir das Hostel. Erstaunlicherweise tanken wir hier Wasser mit der bisher schlechtesten Qualität. Bei der Errichtung der Stadt hat man offenbar vergessen die Infrastruktur für die Bevölkerung zuerst zu schaffen.
Im Zuge der Weltausstellung fand im Jahr 2017 im ehemaligen Astana die Expo mit dem Motto „Energie der Zukunft“ statt. Der Hinterhof des Messehotels dient uns als Übernachtungsplatz und wir starten zum Messegelände. In einer riesigen Kugel der futuristischen „The Sphere“ erstreckt sich die Ausstellung auf fünf Stockwerke.
Nach einem schnellen Einkauf verabschieden wir uns von der Stadt und steuern unseren Truck durch die weite Steppe nach Dolinka.
In der kleinen Ortschaft befand sich von 1931 bis 1959 die Zentrale des berüchtigten Gulag Arbeitslager der Sowjetunion. Bis zur Schließung wurden über eine Million politische Verfolgte und Kriegsgefangene gefoltert, inhaftiert und zur Zwangsarbeit gezwungen.
Das Gebäude ist nun ein Museum und gewährt einen Einblick in die grausame Vergangenheit.
In Spassk, einem der zwölf von 86 übrig gebliebenen Friedhöfen mit verstorbenen Kriegsgefangenen, erinnern Denkmäler an die Opfer aus der ganzen Welt, die in den Lagern ihr Leben ließen.
Mitten in den ebenen Weiten der kasachischen Steppe liegt das kleine Gebirgsmassiv Bektau-Ata. Aus Granitfelsen hat die Erosion hier eine Mondlandschaft mit kleinen unzähligen Wasserbecken geschaffen. Ein kleiner Campingplatz dient uns als Ausgangspunkt für Wanderungen durch die schöne und beindruckende Landschaft.
Auf dem Weg in den Süden des Landes liegt vor uns nun das größte Gewässer Zentralasiens. Der sichelförmige Balchaschsee zieht sich über 600km weit durch die kasachische Steppe. Dem sehr flachen See, welcher 80 Prozent seiner Wasserzufuhr über den Fluss Ili aus China erhält, droht das selbe Schicksal wie dem Aralsee. Der Bau von chinesischen Staudämmen soll den Zufluss in Zukunft auf ein Drittel reduzieren.
Wir verbringen die Nacht an dem schönen natürlichen See und erleben ein Inferno aus Moskitos. Die kleinen Biester bilden riesige Wolken und versuchen durch jede erdenkliche Ritze in unseren Wohnraum einzudringen.
Die nächsten Nächte auf dem Weg zu Grenze nach Kirgistan verbringen wir in der unendlichen Steppe. Wir erleben tiefdunkle Nächte und einem schier unglaublichen Sternenhimmel.
Die letzte Etappe unserer Reise durch Kasachstan führt über eine 250km lange, unglaublich schlechte Straße zur Landesgrenze. Zuerst schneidet sich die alte Straße durch trockene, dürre Steppenlandschaft. Der Asphalt glänzt in der Sonne und schwere LKWs formen ihre Spurrillen in den glühenden, dünnen Belag. Wir müssen den Reifenluftdruck fast halbieren, um einigermaßen schmerzfrei voran zu kommen. In den, immer wieder kehrenden, kleinen Dörfern fahren wir durch gigantische Schlaglöcher.
Freundliche Bauern und Kinder bieten hier am Straßenrand Melonen, Kartoffeln und Kürbisse an.
Wir begegnen Anna, einer älteren Frau und als wir ins Gespräch kommen erzählt sie uns, dass sie einst nach Deutschland ausgewandert sei. Jedoch vermisste sie das kasachische Landleben so sehr, dass sie nach Jahren ihren deutschen Wohnsitz aufgegeben hat und zurück gekehrt ist. Ihre Kinder leben noch in Deutschland und umso mehr freut sie sich um den Kontakt mit uns. Wir kaufen vier verschiedene Melonen und ziehen weiter in Richtung Grenze. In der Ferne können wir bereits die Silhouette der kirgisischen Berge wahrnehmen.